Freitag, 3. April 2015

Anstand



Anstand ist ein Sammelbegriff für jene Verhaltensweisen, die den guten Sitten, den aktuellen Benimmregeln einer Gesellschaft entsprechen. Es liegt im Wesen des Anstands, dass Individuen ihre Impulse zügeln müssen, um diesen Benimmregeln zu befolgen. Und somit auch, dass junge Menschen ab und zu dagegen aufbegehren. Aber woher sollen wir wissen, welches diese Anstandsregeln sind? Wo doch überall beklagt wird, dass sie zerfallen und wo doch immer mehr Menschen aus verschiedenen Kulturen hier bei uns zusammenleben?

[Verhalte Dich anständig, aber nicht aus Prinzip?]  

Nun, es steht in Benimmbüchern. Eines der meist gelesenen ist „Classy – Aufregende Tipps für die Lady von heute“ von Derek Blasberg. Man kann darin nachlesen wie man sich auf einer Flugreise kleidet, wie man eine Party schmeisst und weitere praktische Dinge. Und eben auch, was Anstand im engeren Sinne ist. Es geht gemäss diesem Autor darum, dass man sich auch gegenüber Leuten höflich benimmt, die eine niedrigere Stellung in der Gesellschaft innehaben als man selbst. Natürlich kann man sich darüber streiten, ob das ein aufregender Tipp sei. Absolut spannend finde ich hingegen die Begründung, die dafür angeführt wird. Ich bin nämlich sicher, sie würde den meisten Ökonomen aus dem Herz sprechen. Blasberg zitiert eine Designerin, die einmal von Andy Warhol porträtiert worden ist, die gesagt haben soll, dass sie immer höflich sei zu Piloten und Servicepersonal. Sie könne sich nämlich nicht wehren, falls diese sich entschlössen ihr den schlechtesten Flug ihres Lebens zu liefern oder ihr eine Magenverstimmung zu verpassen. Blasberg erweitert die Liste anschliessend um Polizisten und Zollbeamte, vor allem dann, wenn sie klein gewachsen sind. - Kurz gesagt lautet der Rat folglich, verhalte Dich anständig, aber nicht aus Prinzip, sondern aus Kalkül. Aus ökonomischer Warte könnte man kommentieren: Wo ist denn da der Unterschied? Hauptsache man verhält sich anständig. Wenn man dazu handfeste Anreize hat, umso besser. Die Beweggründe dazu sind doch egal. -  Nun, alle Erwachsenen, die Kinder gross gezogen haben, wissen aber, dass das überhaupt nicht egal ist. Eine gute Erziehung zielt ja eben genau drauf ab, anständige Menschen aus uns zu machen. Solche, die aus Prinzip  anständig sind, und nicht solche, die nur schlau genug sind, sich in den wichtigen Situationen zu verstellen. Nicht solche, die sich  sofort als totale Egoisten und Rüpel entpuppen, sobald sie sich einigermassen sicher sind, nicht bestraft zu werden.

Mir ist schleierhaft, ist wieso die meisten Ökonomen den gigantischen gesellschaftlichen Nutzen nicht sehen, der aus einer anständigen Erziehung entsteht. Vielleicht, weil es ein gesellschaftlicher Nutzen ist und der Nutzen des Individuum als höchster und zu maximierender Wert gilt?  Weil Ökonomen - etwas pubertär -  gegen jegliche Einschränkungen des individuellen Freiheit eintreten? Vielleicht weil sie die Kindererziehung ihrer Lebenspartnerin überlassen und daher vom gesamten Thema nicht allzu viel davon mitbekommen haben? Vielleicht weil sie gelernt haben, wie eine Studie der Universität Zürich suggeriert, Privates und Geschäftliches schön zu trennen? – Ich denke, es können alle Punkte eine Rolle spielen. Letztlich aber ist entscheidend, dass auch Ökonomen die Rahmenbedingungen nicht vorfinden, um gleichzeitig eine akademische Karriere zu machen und Kinder zu erziehen. Ich meine, selbst zu erziehen. Nicht nur für die Erziehung inklusive Kost und Logis finanziell aufzukommen und am Wochenende mit den Kindern zu spielen. Bevor wir uns jetzt über lebensferne Ökonomen beschweren, sollten wir uns als Gesellschaft ganz generell überlegen, wie anständig wir Menschen - Männer wie Frauen -  behandeln, die Kinder erziehen und auch noch Karriere machen wollen. Und zwar zunächst einmal völlig unabhängig davon, ob uns das etwas bringt oder nicht, sondern aus Prinzip.
Denn mit dem Anstand ist es eine so unglaubliche Sache: Anstand zahlt sich auf die lange Sicht für alle aus und wir brauchen uns um die Auszahlung nicht einmal zu kümmern.

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